Kein Blickkontakt = Kein Respekt?
- Lisa Aust
- 13. Mai
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Mai
Im letzten Webinar zur Körpersprache unserer Hunde hatten wir wieder einen spannenden Abend – und wie so oft kam ein Thema auf, das mich persönlich immer wieder trifft.
Es geht um Blickkontakt. Genauer gesagt: um den Umgang damit, wenn ein Hund diesen (noch) nicht zeigt.
Trotz der inzwischen gut verbreiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur hündischen Körpersprache höre ich immer wieder Erzählungen aus Hundeschulen, die mich nicht nur traurig machen – sondern mich auch ganz unmittelbar an meine eigenen Anfänge erinnern. An die Erfahrung, die damals der letzte Anstoß für meine Entscheidung war, selbst Hundetrainerin zu werden.
Eine Geschichte, die ich nie vergessen werde:
Ich hatte meinen Welpen gerade frisch an meiner Seite, auch wenn sie wegen ihrer Größe schon eher nach Junghund aussah. An den Bewegungen und wie sie alles verarbeitete – im Verhalten, in der Entwicklung, und laut Fachdefinition sowieso, war sie nun mal ein Welpe.
Sie hatte bis dahin – wie viele Hunde – nicht gelernt, dass es für uns Menschen etwas Gutes ist, wenn sie uns direkt ansehen. Für viele Hunde ist das alles andere als selbstverständlich.
Heute? Kein Thema mehr. Sie kann wunderbar Blickkontakt aufnehmen und hält ihn auch gerne.

Damals aber war alles neu, alles viel. Die Umgebung, die Menschen, die Gerüche, Geräusche – alles war zu viel. Erst recht in der Gruppenstunde, wo diese Erzählung stattfindet. Und so bot sie mir in dieser stressigen Situation das an, was ihr möglich war: ein ruhiges Sitz. Mit abgewandtem Blick.
Doch was passierte? Wir wurden direkt zurechtgewiesen. Mir wurde gesagt, der Hund würde mich ignorieren – ich solle strenger sein. Also tat ich, was viele von uns tun würden: Ich hörte auf die Profis. Ich wollte ja alles richtig machen.
„Ah! Jetzt wird sie richtig frech!“, rief die Trainerin, als meine kleine Yosi sich nach meiner Ermahnung noch weiter abwandte. Sie stand auf, zog sich zurück – nicht zu den anderen Hunden, nicht zu einem spannenden Geruch – sie wirkte wie abgeschaltet. Passiv.
„Das ist Ignorieren. Jetzt musst du sie korrigieren!“ kam es prompt. Und die Trainerin zeigte, wie man mit zu einer Pistole geformter Hand, Mittel- und Zeigefinger in den Hals des Hundes piekst – mit Nachdruck, wenn nötig. Damit sie endlich herschaut.
Was soll ich sagen? Mein Hund zuckte nicht einmal, senkte den Blick – und das war’s. Kein Blickkontakt. Kein Vertrauen. Nur Rückzug.
„Jetzt musst du energischer werden“, hieß es.
Aber mein Gedanke war klar: Gar nichts muss ich.
Mein Hund hat keine Ahnung, was sie überhaupt tun soll – und noch weniger, warum ich ihr gerade wehtue.
Was ich damals intuitiv gespürt habe, kann ich heute mit Wissen untermauern:
Was hier gezeigt wurde, war Meideverhalten.

Ein Hund zeigt Meideverhalten, wenn er eine Situation als bedrohlich, überfordernd oder unangenehm empfindet – ohne direkt in Flucht oder Aggression zu gehen. Stattdessen versucht er, dem Reiz auszuweichen und auch gleichermaßen sein Gegenüber zu besänftigen, möglichst wenig provokant zu erscheinen: Er schaut weg, friert ein, dreht sich ab, zieht sich zurück.
Wird dieses Verhalten übersehen oder sogar bestraft, kann das schwerwiegende Folgen haben – nicht nur in der jeweiligen Situation, sondern auch im Alltag weit darüber hinaus.
Verstärkung von Angst und Unsicherheit
Beispiel: Beim Spaziergang kommt ein fremder Hund entgegen. Dein Hund möchte ausweichen oder bleibt stehen. Wenn du ihn stattdessen weiterziehst oder ihn aufforderst, „sich zusammenzureißen“, fühlt er sich allein gelassen.Er wird beim nächsten Mal noch unsicherer reagieren – vielleicht schon bei bloßer Sicht eines anderen Hundes.
Verlust von Vertrauen zum Menschen
Beispiel: In der Hundeschule sucht dein Hund deine Nähe, senkt den Blick, zieht sich zurück. Wird das als „Ungehorsam“ ausgelegt und mit Schimpfen oder Druck beantwortet, lernt er: „Bei meinem Menschen bin ich nicht sicher.“Das kann sich auf alltägliche Situationen übertragen – etwa beim Anleinen oder Hochheben.
Körperlicher und emotionaler Stress
Beispiel: Wiederholte Überforderung ohne Handlungsspielraum führt oft zu Stresssymptomen wie ständigem Hecheln, Gähnen, Magen-Darm-Problemen oder Schlafstörungen. Auch Übersprungshandlungen wie Lecken, Kratzen oder „nervöses Herumwuseln“ können sich häufen.
Aggressionssteigerung als letzte Lösung
Beispiel: Dein Hund zeigt immer wieder, dass er Berührung nicht möchte. Wird das ignoriert, können Knurren, Schnappen oder Beißen folgen – nicht aus „Dominanz“, sondern weil alle leisen Bitten vorher unbeachtet blieben.
Unabhängige Alltagssituationen mit plötzlicher Reizbarkeit
Beispiel: Dein Hund zeigt plötzlich Unruhe bei Dingen, die früher kein Problem waren: Autofahren, Besuch, Fütterung. Dahinter kann sich aufgestauter, nicht wahrgenommener Stress verbergen, der nun über Umwege zum Ausdruck kommt.
Leinenruck als Auslöser und Verstärker
Beispiel: Dein Hund wird bei Hundesichtung geruckt. Die Verknüpfung entsteht: „Hund sehen = Schmerz = Stress“. Das kann zu Leinenreaktivität oder sogar zu rückgerichteter Aggression gegen den Halter führen.

Ist Meideverhalten etwas schlechtes? Ganz klar: Nein.
Meideverhalten ist eine Form der Kommunikation. Es ist das hündische „Nein danke“ – und genau wie Stress lässt es sich nicht völlig vermeiden. Entscheidend ist nicht, dass ein Hund Meideverhalten zeigt, sondern wie wir darauf reagieren.
Ein Hund, der Meideverhalten zeigt, ist noch in der Kommunikation. Er zeigt sich, sucht Lösungen, bleibt kooperativ. Er ist weder eingefroren noch hat er die Eskalationsleiter bereits weiter erklommen.
Merke: Je häufiger ein Hund übergangen wird, desto schneller wird er zukünftig die nächste Eskalationsstufe überspringen. Nicht weil er plötzlich „unberechenbar“ ist – sondern weil er gelernt hat, dass seine leisen Signale nichts bewirken.
Und noch etwas Wichtiges:
Rasse, Genetik, Charakter und Vorerfahrungen beeinflussen stark, wie sich Meideverhalten zeigt. Manche Hunde, wie z. B. der Beagle, zeigen eine hohe Reizschwelle und bleiben auch unter großem Druck lange freundlich und passiv. Genau deshalb wird diese Rasse seit jeher als Laborhund eingesetzt.
Doch gerade bei diesen Hunden ist Achtsamkeit gefragt: Nur weil keine Eskalation erfolgt, heißt das nicht, dass alles in Ordnung ist. Ihre stille Art darf nicht dazu führen, dass ihre Bedürfnisse übergangen oder gar ausgenutzt werden. Denn auch bei ihnen kann sich chronischer Stress ansammeln – und an anderer Stelle plötzlich zum Ausdruck kommen.
Meideverhalten ist kein Problemverhalten. Es ist Kommunikation. Wer lernt, diese Signale zu sehen und darauf wohlwollend zu reagieren, baut eine stabile, respektvolle Beziehung auf – mit einem Hund, der sich gehört und verstanden fühlt.
Hier sehen wir Meideverhalten als Reaktion auf verschiedene Auslöser:

Dem Labrador wurde verboten, die Katze zu jagen, worauf er auf die Annäherung mit Meideverhalten reagiert (Es wurde kein Alternativverhalten aufgebaut, der Hund steht alleine da mit seiner Überforderung - Folge kann eine negative Verknüpfung mit dem Auftauchen der Katze sein)

Yosi reagiert hier mit Meideverhalten um deeskalierend auf einen sich rasch und zielgerichtet nähernden Fremdhund im Freilauf einzuwirken. Wird dieses Verhalten häufig bei Begegnungen übergangen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Hund in Zukunft beginnt, fremde Hunde mit "härteren Mitteln" abzuwehren.

Yosi reagiert mit Meideverhalten, um dem distanzlosen Galgo (noch) deeskalierend zu suggerieren, dass sie ihre Ressource, den Stock, nicht hergeben oder teilen möchte. Wäre der Galgo nicht von seinem Besitzer zurückggezogen worden, hätte Yosi ihren Standpunkt vermutlich durch Knurren verstärkt.

Yosi zeigt deutliches Meideverhalten, als ich ihr die Krallenschleifmaschine zeige. Das zeigt mir, dass es hier besser ist, mit einem Kooperationssignal zu arbeiten um ihre eindeutigen Signale nicht zu übergehen und eine potentiell stärkere Reaktion hervorzurufen. Kooperationssignale nach dem Konzept des Medical Trainings helfen dem Hund das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu geben und somit die Kontrolle über die Dauer des Eingriffs zu bestimmen. Das sorgt dafür, dass seine Kommunikation nicht übergangen wird und er eine Option auf Rückzug hat, statt heftiger zu reagieren.
Blickkontakt, eine tolle Sache, aber kein Muss.
Viele von uns wünschen sich einen aufmerksamen, zugewandten Hund, der uns anschaut. Und das ist verständlich – ein Blickkontakt schafft Verbindung und suggeriert uns volle Aufmerksamkeit.
Aber: Nicht jeder Hund kann das gleich gut. Nicht jeder Hund fühlt sich damit wohl. Manche Hunde ziehen Kraft und Sicherheit aus dem Augenkontakt mit ihren Menschen. Für andere ist es zu viel, zu fordernd, zu nah.
Ein Vergleich lohnt sich: Auch wir Menschen empfinden Blickkontakt nicht immer als angenehm – besonders dann nicht, wenn wir uns unwohl fühlen oder bedrängt werden. Wäre es da nicht fair, unseren Hunden ebenfalls diesen Raum zu geben?
Und gleichzeitig gibt es Hunde, die genau das Gegenteil erleben:
Für sie ist Blickkontakt keine Bedrohung, sondern eine Orientierungshilfe. Besonders in Momenten der Unsicherheit oder Überforderung suchen sie den Augenkontakt mit ihrem Menschen – nach dem Motto: „Sag du mir, was ich tun soll.“
Dieses Verhalten ist nicht falsch oder zwangsläufig „unselbstständig“ und unsicher. Sie haben gelernt, dass der Blick zum Menschen ihnen Klarheit und Sicherheit bringen kann.
Aber Vorsicht: Nicht jeder Blickkontakt bedeutet Vertrauen. Gerade bei Hunden, die unter unvorhersehbaren Trainingsansätzen aufgewachsen sind, kann der ständige, fast schon starrende Blick zum Menschen auch ein Zeichen von Unsicherheit oder Angst sein. Diese Hunde „gaffen“ ihren Menschen an – nicht aus Freude, sondern, weil sie gelernt haben:
„Wenn ich ihn anschaue, mache ich wenigstens nichts falsch.“
Sie trauen sich oft nicht, eigene Entscheidungen zu treffen oder ihre Umgebung zu erkunden, sondern hängen geradezu am Gesicht des Menschen, um keine Fehler zu machen.
Und dann gibt es noch die andere Gruppe:
Hunde, die Blickkontakt regelrecht einfordern – nicht aus Unsicherheit, sondern weil sie gelernt haben, dass dieser Moment der Aufmerksamkeit stark belohnend wirkt.
Für sie ist das wie ein: „Hey, schau mich an – ich bin da! Mach was mit mir!“
Das ist quasi der Balljunkie für Aufmerksamkeit –und auch mit viel Stress verbunden, oft auch mit Frust und Bellen, wenn nicht die erhoffte Reaktion folgt.
Das Wichtigste:
Starrer Blickkontakt ist kein Muss.
Es gibt viele Möglichkeiten, Aufmerksamkeit, Bindung und Orientierung aufzubauen, ohne dass der Hund uns ständig ansieht.
Zum Beispiel:
eine gemeinsame Bewegung in dieselbe Richtung
ein feines Ohrenspiel in unsere Richtung
ein Innehalten bei Ansprache
eine leichte Körperdrehung zum Menschen hin
oder schlicht: das freiwillige Warten, wenn wir stehenbleiben, entspannte Orientierung an der Bewegung des Menschen
All das sind Zeichen von Aufmerksamkeit –oft sogar feiner und stressfreier als ein starrer Blick.
Fazit:
Statt pauschal zu fordern, dass ein Hund „uns ansehen soll“, lohnt sich die Frage:
Warum sucht mein Hund Blickkontakt – oder warum nicht? Was braucht er gerade wirklich – Nähe, Orientierung oder vielleicht etwas Raum? Und wie kann ich unsere Kommunikation so gestalten, dass sie zu uns beiden passt – und nicht auf einem starren „Ideal“ basiert?
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